Geschichte: Vergessen XVIII


 Vergessen XVIII
Buch:
  Vergessen
Autor:
 nightdragon (Profil)
Datum:
 23.09.2018 14:04

Der nächste Morgen war von dunklen, grauen Wolken verhüllt. Der Himmel war erfüllt vom Dröhnen des Donners und vom Krachen der Blitze. Die Luft roch nach Regen, der beständig prasselnd auf die gedrungenen Dächer fiel und die Glut in der schwelenden Hausruine löschte.
Auf den schlammigen Straßen war keine Menschenseele zu sehen.
Miriam saß mit übergeschlagenen Beinen auf dem ehemaligen Heuboden ihres Hauses und lauschte dem steten Trommeln tausender Tropfen auf dem alten Dach.
Unten verriet ein dumpferes Klopfen, dass ihre Mutter Butter schlug. Noch bevor am Vorabend das Unglückshaus verbrannt worden war, hatten sie alles hineingeschafft, was vor dem Regen geschützt werden musste.
Eine lange Leine spannte sich durch den einzigen Raum, vom Heuboden bis zum Ofen am gegenüberliegenden Ende. Sie war mit feuchter Wäsche, Stockfisch und Kräutern behangen. Auch einige Zwiebeln baumelten über dem kleinen Tisch, auf dem ein paar Talgkerzen entzündet worden waren und nun schwaches Licht boten.
Sehnsüchtig warf Miriam einen Blick zur Tür.
Wie gerne wäre sie nun in Darius' Bibliothek und würde ihn nach der Pest fragen - oder noch besser- selbst darüber lesen!
Aber bei diesem Wetter würde sie nicht weit kommen. Davon abgesehen, kannte sie den Weg kaum, zweifellos würde sie sich verlaufen.
Das Mädchen seufzte, wandte sich wieder der Tunika in ihren Händen zu und hob die knöcherne Nadel. Das Kleidungsstück hatte einige Löcher und allein an diesem Morgen hatte sie sich bereits unzählige Male in die Finger gestochen.

Als das spitze Werkzeug zum wiederholten Male sein Ziel verfehlte, gab sie schließlich auf und machte sich daran, die Leiter hinabzusteigen.
“Mutter?“, rief sie, um das regelmaßige Stampfen zu übertönen.
Das Geräusch hörte auf.
Das freundliche, gebräunte Gesicht von Leonora Tullia erschien am unteren Ende der Leiter. Sie wischte sich die Finger am fleckigen Rock ihres rostroten Kleides ab und sah zu wie ihre Tochter die letzten Stufen übersprang.
“Was denn?“, fragte sie. “Wenn es nicht dringend ist, will ich vorher gern die Butter fertig machen - sonst wird alles wieder zu Milch!“
Sie drehte sich um und hantierte wieder geschäftig am Milchfass rum.
“Also, was ist?“ Erwartungsvoll blickte sie das Mädchen über die Schulter an.

Miriam zögerte.
Sie hatte lange überlegt, ob und wie sie ihre Mutter danach fragen sollte. Nervös nestelte sie am Saum ihres Hemdes, die blauen Augen auf ihre schmutzigen Füße gerichtet, die unter dem langen Rock hervorlugten.
“Ich wollte nur wissen“, begann sie vorsichtig. Aus dem Augenwinkel sah sie nun zu der völlig in ihre Arbeit vertieften Frau auf. “Ob du weißt, was man... was man bei plötzlichen Schmerz....-Anfällen tut.“
Leonore hielt inne.
“Und bei Krämpfen in der Brust“, fügte sie hastig hinzu.
Ihre Mutter hob den Blick zur mit trocknenden Kräutern behangenen Decke, während sie weiterhin bedächtig die geschlagene Milch umrührte.
“Bei Schmerz-Anfällen...“, wiederholte sie langsam. “Und Krämpfen. Darf ich fragen, wo es denn schmerzt?“
Miriam nickte.
“Überall“, sagte sie. “Aber am meisten in der Brust.“
Erwartungsvoll sah sie ihre Mutter an, die immer noch rührend die Hand hob und sich am Kinn kratzte. “Also, ich würde vermutlich einen Tee kochen - aus Weißdorn und Misteln.“
Leonora runzelte die Stirn. “Ich weiß allerdings nicht, wie gut sich das miteinander verträgt...Man könnte wohl auch Weißdornsaft machen oder die Beeren einfach essen, aber so schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe, nicht wahr?“
Sie wandte das Gesicht wieder ihrer Tochter zu. Wachsam ruhten ihre Augen auf deren Mimik. “Ich habe ein paar Misteln vor Kurzem zum Trocknen aufgehängt, die hoffentlich bald zum Tee-Kochen geeignet sind. Möchtest du bis dahin einfach ein paar Weißdorn-Früchte nehmen?“
Ertappt nickte Miriam und senkte den Blick.



2 mal bearbeitet. Zuletzt am 22.10.18 17:20.