Geschichte: Der Turm der verlorenen Träume XV


 Der Turm der verlorenen Träume XV
Buch:
  Der Turm der verlorenen Träume
Autor:
 Nasobem (Profil)
Datum:
 31.12.2017 11:47

„Seht ihr den Fluss dort hinten?“, fragte Duc.
Silvana kniff die Augen zusammen. Ja, sie konnte in der Ferne ein schmales, grünlich braunes Band ausmachen, das hier und da zwischen den Hügeln sichtbar war.
„Den werden wir in drei Tagen erreichen“, sagte Duc. „Dort müssen wir dann entweder eine Brücke finden – etwas weiter östlich liegt eine Stadt – oder wir bauen uns selbst ein Floß.“
„Das kommt ganz darauf an, ob wir ungesehen bleiben wollen“, fügte Giovanni hinzu.
Die drei rasteten eine Weile auf der Hügelkuppe, bevor sie sich wieder auf den Weg machten.
Sie folgten einem schmalen Pfad zwischen zwei Schafsweiden hinunter ins Tal.
Am Abend rasteten sie im Schatten eines schmalen Waldstreifens, der zwei Weiden voneinander trennte.

Silvana wachte auf, weil sie fror. Die Luft war erfüllt von leichtem Regen. Die Tropfen waren so klein, dass sie kaum fielen, sondern wie Nebel in der Luft hingen und in den ersten Sonnenstrahlen glitzerten.
Sie setzte sich auf und streckte die steifen Glieder. Giovanni schlief neben ihr und Duc saß auf der Wiese und blickte der aufgehenden Sonne entgegen. Silvana sah sich nach Onyx um. Der Papagei saß auf dem untersten Ast eines Baumes und schlief, den Schnabel im Federkleid vergraben.
Langsam wurde die Luft wärmer und der Himmel klarte auf.
Nachdem Silvana in ihrem Rucksack ein trockenes Hemd gefunden hatte, ging sie durch das nasse Gras zu Duc.
„Guten Morgen“, begrüßte er sie.
„Wie lange sind wir schon unterwegs?“, fragte Silvana, die schon lange den Überblick verloren hatte.
Duc überlegte eine Weile.
„Vor zwanzig Tagen sind wir aus Brendendorf aufgebrochen, also fast drei Wochen. Es müsste heute der zweite Juni sein, wenn ich nicht falsch liege.“
„Drei Wochen“, wiederholte Silvana. Sie war beinahe ein bisschen enttäuscht. Die Zeit, die sie mit Duc und Giovanni unter freiem Himmel verbracht hatte, schien wie eine Ewigkeit, ihr Zuhause in weiter Ferne.
„Duc?“, sagte sie. Dieser blickte auf.
„Ich habe das Gefühl als würde die Erinnerung an mein Zuhause immer mehr verblassen“, fuhr sie fort. „Fast als hätte ich nie eines gehabt.“
Dann musste sie lachen. Wenn sie sich schon nach so kurzer Zeit so fühlte, wie musste es dann für ihn sein?
„Das muss so seltsam für dich klingen“, sagte sie. „Es waren ja nur drei Wochen. Aber du...“ Sie stockte. „Hast du ein Zuhause?“
Er lächelte.
„Ich bin auf einem Landgut westlich von hier aufgewachsen. Das Haus gehört jetzt meinem Bruder und dessen Familie. Er kann mich nicht besonders gut leiden, aber wenn ich vorbeikomme, lässt er mich bei ihm einkehren. Ansonsten bin ich meistens unterwegs, schlafe unter freiem Himmel oder in einer Herberge.“
Er hielt inne und lachte.
„Das beantwortet nicht wirklich deine Frage“, sagte er dann.
„Es gibt keinen Ort, an den ich mich gebunden fühle. Manchmal wünsche ich mir wirklich, noch Wurzeln zu haben. Aber meistens bin ich dankbar für die Freiheit."
Sein Gesicht verdüsterte sich.
"Am Anfang war es schwer. Ich hatte das Gefühl, nirgendwo hinzugehören.
Ich fühlte mich wie ein Geist, als würde ich gar nicht existieren. Gleichzeitig war ich so lebendig wie noch nie.“
Duc machte eine Pause und blickte in die Ferne, dorthin, wo der Nebel den Horizont verschleierte.
„Erst, wenn du jeden Tag ums Überleben kämpfst“, sagte er dann, „spürst du wirklich, dass du am Leben bist.“
Er blickte über die Schulter und pfiff nach Onyx. Diese schüttelte den Tau aus ihren Federn und flatterte dann zu ihnen hinüber.
Auch Giovanni war inzwischen aufgewacht und suchte in seinem Gepäck nach etwas zu Essen. Nach einem spärlichen Frühstück machten sie sich wieder auf den Weg.
Die Sonne kletterte höher und erwärmte die Luft. Die Wiesen dampften und alles war in Dunst gehüllt.
Als sie über die feuchte Weide stapften, sah Silvana weiter hinten einen schwarzen Schatten, der wie schwerelos über das Gras huschte und in einer Hecke verschwand. Sie dachte nicht weiter darüber nach. Sicher war es nur ein Feldhase oder ein Marder gewesen.
Die Schafe, die ruhig beisammen standen und grasten, trotteten gemächlich aus dem Weg, als die kleine Schar sich näherte. Ein Hund oder Hirte war nirgends zu sehen.



2 mal bearbeitet. Zuletzt am 31.12.17 11:58.

 Re: Der Turm der verlorenen Träume XV
Autor:
 Nasobem (Profil)
Datum:
 31.12.2017 11:55
Bewertung:
 

Hehe. Es ist lustig, dass man als Schriftsteller oft von Dingen schreibt, von denen man keine Ahnung hat. Ich meine, ich habe nie erlebt, wie es ist, ums Überleben zu kämpfen oder heimatlos zu sein. Wenn es nach meinem Klassenlehrer ginge, dann dürfte ich das alles gar nicht schreiben, weil ich es nicht erlebt habe und deshalb keine Ahnung davon habe.
Aber dafür gibt es ja die Fantasie. Und die meisten Leser haben auch nie ums Überleben gekämpft und können mich deshalb nicht widerlegen.